Mit dem richtigen Modell von Lesebrille kann man sich eine tolle gesellschaftliche Stellung schaffen: „A Day in the Life of a Debutante“, den die Fotografin Madame Yevonde 1932 in einer Bilderstrecke für die Zeitschrift „The Queen“ schilderte, umfasste auch „An hour’s serious reading“. Elizabeth Cowell, die sich hingegossen vor dem Folianten auf dem blauen Sopha präsentierte, wurde vier Jahre später als eine der drei ersten Fernsehansagerinnen der BBC engagiert.

Close Reading :
Langsam und ohne Stimme gedacht

Von Hanna Engelmeier
Lesezeit: 5 Min.

Es könnte sein, dass sich ökologische Katastrophen und Befunde der Theologie viel häufiger überschneiden, als man naiv annehmen würde. Zumindest scheint es Anlass dafür zu geben, auf dasselbe Vokabular zurückzugreifen. So geschehen im Literarischen Colloquium (LCB) in Berlin beim ersten Vortrag des zweiten Tages einer Konferenz zur ursprünglich literaturwissenschaftlichen Praxis des Close Reading in vergleichender Perspektive. Mit Blick auf die Exegese biblischer Texte stellte der Theologe Jörg Lauster fest, dass es zu einer „Überfischung“ gekommen sei. Das Staunen angesichts der Offenbarungen des Neuen Testaments sei der Forschung ausgetrieben, kein Hapax Legomenon bleibe unausgelegt, kein Bezug unaufgeklärt, kein möglicher Weg zur Deutung der Schrift unbeschritten. Dies sei Ergebnis einer Form des Close Reading, das Texte zum Verstummen bringen könne.

Damit wäre eine extreme Ausprägung des Lektüreverfahrens erreicht, das der Literaturwissenschaftler I. R. Richards in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts während seiner Lehrtätigkeit am Magdalene College der Universität Cambridge entwickelte. Ursprünglich stand bei ihm allerdings eher der angespannte Rezeptionsmuskel der Leser im Vordergrund als der literarische Text selbst. Richards führte Close Reading als eine Art Propädeutik ein, mittels derer noch ganz unerfahrene Studierende in die Lage versetzt werden sollten, sich ohne Hilfsmittel wie Nachschlagewerke oder Sekundärliteratur und ohne Informationen zur vorliegenden Quelle mit Texten auseinanderzusetzen. Entscheidend war für Richards, anhand dabei entstehender Lektüreprotokolle Einsicht in die Auffassungen jun­ger Leser vis-à-vis einem kulturellen Artefakt zu gewinnen und deren Selbstreflexion beim Lektüreprozess zu stärken.

In der Karriere dieses Verfahrens, die man wohl trotz aller Anwürfe gegen ahistorisches Vorgehen und Dekontex­tualisierung als eine Erfolgsgeschichte beschreiben muss, gewann vor allem die Idee an Attraktivität, dass es eine literarischen Texten immanente Theorie gebe, die man ihnen ablauschen kann, wenn man sein Ohr nur lange und fest genug auf ihren Brustkorb legt. Die von dem Germanisten Michael Gamper und dem Kulturhistoriker Philipp Felsch gemeinsam organisierte Tagung erwies dabei vor allem, wie viel Energie in der Folge darauf verwendet wird, diesen Vorgang zu rekonstruieren und nachvollziehbar zu machen. Gelingt es, gewinnt man eine Vielzahl von Einsichten. Dabei handelten jedoch die wenigsten derjenigen, die am Wannsee vorgetragen wurden, von den Eigenschaften literarischer Texte.

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